Eine transaktionsanalytische Betrachtung zur Wahrnehmung, zu Transaktionen, dem Bezugsrahmen und den Ich-Zuständen
Wahrnehmungen und Transaktionen
Wahrnehmung kann manchmal fast schmerzhaft sein. Ob es nun ein intensiver Film ist, der uns fesselt oder ein Tag im Großstadtgetriebe, eine Fahrt mit dem eigenen Auto durch Palermo, irgendwann ist Erschöpfung in Sicht. Zum Glück haben wir unseren Körper, der sich dann in den Vordergrund drängt. Müdigkeit macht sich breit.
Auch wenn wir unsere Aufmerksamkeit immer nur auf einen Aspekt richten können, die anderen Sinne sind deshalb nicht abgeschaltet. Und sehr viel Stimulation veranlasst unsere Sinnesorgane überall mal hinzuhören, hinzusehen oder hinzuriechen. Von Moment zu Moment neue Eindrücke.
Dezent schieben sich unsere sicherheitsbetonten Grundbedürfnisse „Hunger nach Zugehörigkeit“ und „Hunger nach Struktur“ in unsere Bedürfnislage. Raus aus dem Getriebe, die vertraute Wohnung unseres Gastgebers aufsuchen, mit den Liebsten zuhause telefonieren, schafft einen Ausgleich für zu viel Stimulation.
Letztlich kann mal alle Stimuli auch als Transaktionen begreifen. Unsere Umwelt spricht mit uns. Schon allein unsere Neigung, alles was es zu lesen gibt auch zu lesen, lehrt uns das. Der Aufkleber am Auto der Vorderfrau, der Werbeschriftzug an der Hauswand, die Werbung am LKW, alles wird gelesen.
Wir wissen, alle Wahrnehmungen landen in unserem Bezugsrahmen. Der Bezugsrahmen ist unser geschlossenes Bild, das wir von uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt im Allgemeinen entwickelt haben. Einzigartig und spezifisch für uns. Wir leben in einer Blase, die unsere spezielle und individuelle Sicht auf Alles repräsentiert. Vielleicht kling „unser eigener Kosmos“ besser als Blase, aber die Filterqualität bleibt die gleiche. Entweder werden Wahrnehmungen „eingemeindet“, also so umgeformt, dass sie in unseren Bezugsrahmen passen oder sie werden gänzlich aussortiert.
Unsere Umwelt spricht mit uns. Wie verändert sich der Begriff der Transaktion, wenn ich ihn nicht nur auf den kommunikativen Austausch zwischen Menschen beziehe, sondern alle Umweltstimuli als Stimuli auf unsere Ich-Zustandsformen, inklusive einem Ichzustands-Response, verstehe?
Er weitet sich um Wesentliches. Vor allen Dingen tritt der Bezugsrahmen als Filterorgan auf die Bildfläche. Eine Transaktion nur auf das geschriebene, gesprochene Wort und die nonverbalen Anteile zu reduzieren, würde alle anderen Umweltaspekte ausklammern. Wissen wir nicht, dass Autofahrer gänzlich andere Kommunikationsformen leben, wenn sie es im eigenen Auto eilig haben? Verläuft eine Befragung in Handschellen anders als ohne Handschellen? Sind Transaktionen von Tauchern unter Wasser anders als über Wasser? Wird ein Gespräch bei großem Lärm anders als bei Stille? Verändert sich Onlinekommunikation allein durch das Medium?
Im Grunde wissen wir wie stark Umweltbedingungen unsere Kommunikation beeinflussen. Warum wir diesen Aspekt nicht in die Theorie der Ichzustände aufgenommen haben, bleibt vielleicht weniger erklärlich. Wenngleich einer unsere fleißigsten Theoriespender ein fortschrittlicheres Ich-Zustandskonzept beschrieben hat.
Günther Mohr beschreibt in seinem Buch „Coaching und Selbstcoaching mit Transaktionsanalyse“ Ich-Zustände als „ein stetiger Strom“ (S.32) von Fühl- Denk- und Verhaltensmustern.
In diesen stetigen Strom münden alle Wahrnehmungen. Um die Kurve zum traditionellen Konzept der Ich-Zustände wieder hinzubekommen, bemüht er dann zwar die Gewohnheiten, die diesen stetigen Fluss auf die bekannten Drei (Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kind-Ich) begrenzt. Aber er erwähnt auch die „flüchtigen“ Ich-Zustandsformen.
In seiner Praxis geht er aber über diese Begrenzung hinaus. Seine Fragen an Klienten beziehen sich auf den Moment. Was fühlst du im Moment, was denkst du im Moment, was wäre dein Verhaltensimpuls für den Moment? Damit öffnet er das Ich-Zustandskonzept für alle Wahrnehmungsaspekte in Bezug zum Bezugsrahmen des Klienten.
Das Ich-Zustandskonzept sollte integraler Bestandteil des Bezugsrahmenkonzeptes sein. Das Bezugsrahmenkonzept öffnet die Transaktionsanalyse für eine systemisch integrierende Sicht auf Interaktionen und Kommunikation.
Eric Berne definiert eine Transaktion als „Grundeinheit aller sozialen Verbindungen“ (E.Berne, Spiele der Erwachsenen, S.37). Damit spiegelt er die individualistische Sicht auf kommunikative Situationen.
Der Kontext, z.B. innerpsychisch repräsentiert in Form der Bezugsrahmen der Beteiligten, spielt dabei keine Rolle. Dass das so nicht stimmt, wissen wir schon länger. Wir bedienen uns dann diverser Hilfskonstruktionen, wie Kulturunterschiede und Kontextanalysen, die aber allesamt aus der Systemtheorie entlehnt sind. Den Bezugsrahmen, als Filter der Wahrnehmungen in Bezug auf den Kontext, vernachlässigen wir.
Transaktionen und ihr Wirken im Bezugsrahmen
Eine Transaktion, nehmen wir an ein gesprochenes Wort von einem Gegenüber, trifft auf den Bezugsrahmen des Angesprochenen. Dort ist die gesammelte Erfahrung dieser Person hinterlegt. Die Historie mit ähnlich aussehenden Menschen, die Historie mit Stimmen und den dazu passenden Stimmungen, die Historie der Örtlichkeiten, die Historie der Rollen, und so weiter. Aus der Gesamtmenge der Wahrnehmungen und der im Bezugsrahmen hinterlegten Eindrücke, formt sich ein Gefühlsimpuls. Dieser Impuls ruft ein Denkmuster auf, das gekoppelt ist mit einer Bewertung. Die momentane Stimmung ist gefährlich (Nicht-OK) oder freundlich (OK) und aus dieser Einschätzung resultiert ein Verhaltensimpuls.
Ob das bewusste Denken noch wahrnehmbar Einfluss auf das Verhalten nehmen kann, darf bezweifelt werden. Vermutlich sind neuronale Gefühls- und Verhaltensmusterkoppelungen in Form von Gewohnheiten internalisiert. Was dann auf der Verhaltensebene passiert, wird im Nachgang gedanklich passend gemacht. Paare, besonders ältere Paare, kennen diese Reiz- Reaktionsmuster zur Genüge. Er grinst auf eine bestimmte Art, während sie versucht den Tankdeckel zu öffnen, worauf hin sie „explodiert“. Das hat dann nichts mit dem Benzin-Luftgemisch zu tun, sondern mit der geballten Ladung an Zorn, die sich in ihrer Historie angesammelt hat.
Die Gewohnheiten, die als hochautomatisiertes Verhalten in Erscheinung treten, sind fester Bestandteil des Bezugsrahmens. Möchte ein Mensch am Ergebnis dieser Gewohnheit etwas ändern, z.B. dass das ältere Paar dann drei Tage nicht mehr miteinander spricht, muss er erst erkennen, dass es sich bei ihm um eine Gewohnheit handelt. Der Reiz-Reaktionsautomatismus als solcher müsste entschlüsselt sein und eine Alternative skizziert sein. Dass diese Automatismen sehr beharrlich sind, dürfte den meisten Menschen bekannt sein.
Gewohnheiten können auch als Bewältigungsmuster in der Entwicklung eines Menschen aufgefasst werden. Vermutlich besteht auch ein Zusammenhang zu Narrativen des Skriptes aus der magischen Entwicklungsstufe (Piaget) des Kindes. Als Abwehr- und Bewältigungsmuster sind sie besonders beharrlich, weil kindliche Überzeugungen (Glaubenssätze) hinterlegt sind. Gewohnheiten, als weitgehend unbewusste neuronale Automatismen, haben konzeptionell in der Transaktionsanalyse keinen Platz. Das sollte sich ändern. Gewohnheiten ohne inhaltlichen Bezug zum Skript, lassen sich deutlich leichter verändern. Im stetigen Strom der Ich-Zustände ist es durchaus möglich, Unterschiede die einen Unterschied machen, einzuüben.
Denkmuster als Gefühlsregulatoren
Denkmuster sind eine Interpretation der Gefühlsimpulse. Sie beschreiben und rechtfertigen Gefühlszustände und die daraus folgenden Handlungen.
Da Entscheidungen eine gute Repräsentanz für unser bewusstes Denken sind, möchte ich ein gängiges Beispiel aus dem Alltag einbringen: Zwei Paare sitzen in einem Restaurant und sind beim Bestellen. Währen die zwei Frauen und ein Mann in den zehn Minuten, bis der Ober an den Platz kam, fündig geworden sind, quält sich einer der Männer mit seiner Entscheidung. Die Beteiligten kennen das Phänomen. Es ist immer das Gleiche. Nachdem der Ober die Getränke gebracht hat, ist immer noch keine Entscheidung gefallen. Irgendwann fällt die Entscheidung und alle am Tisch sind erleichtert. Mittlerweile fragt schon keiner mehr, warum das jetzt so schwierig gewesen sei, weil alle wissen, dass die Begründungen etwa so ausführlich sein wird wie die Entscheidungszeit.
Das Muster des Denkens ist ein Hin und Her zwischen Möglichkeiten, dem Verwerfen von Möglichkeiten, dem Suchen nach Alternativen, um irgendwann zu den schon verworfenen Möglichkeiten zurückzukehren, um sie erneut zu prüfen. So entsteht ein zunehmender Druck und den dazugehörenden Gefühlen durch das Auseinanderfallen der äußeren Situation und dem inneren Entscheidungsdesaster. Vermutlich ist die äußere Situation, sich entscheiden zu müssen, der Kontexttrigger, der im Bezugsrahmen die hinterlegten Muster aufruft und die Gewohnheit hervorbringt.
Wir können zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Dynamiken unterscheiden:
- Denkgewohnheiten die Gefühle zurückdrängen sollen (GU, Gefühlsunterdrückend)
- Denkgewohnheiten die Gefühle stimulieren und verstärken (GS. Gefühlsstimulierend)
Zur weiteren Differenzierung gefühlsunterdrückender und gefühlsstimulierender Denkgewohnheiten, kann man die Denk-Reaktionen auf die vier Grundgefühle näher betrachten. Dabei ist der Fokus auf die Frage gerichtet, ob das Muster eher GU oder GS entspricht. Je stärker die Muster und je kindlich-unlogischer die Denkfiguren sind, um so eher kann man vermuten, dass das Denken skriptgefärbt ist.
Alles strömt
Der Bezugsrahmen und das Ich-Zustandskonzept sind in einem zu denken. Günther Mohr öffnet mit seinem Konzept der Ich-Zustände als stetem Strom den Bezugsrahmen als Herkunftsort der Ich-Zustandsbildung. Dabei bezieht er den Körper als weitere Stimulanz für die Ich-Zustandsformung mit ein (S.31). Aber auch diese Wahrnehmungen passieren den Bezugsrahmen und münden in den Strom der Ich-Zustände. Von hier aus kann man über Befragung die bewusstseinsfähigen Denkfiguren erkunden und sowohl den automatisierten wie den bewussten Gefühls- und Verhaltensmustern auf die Spur kommen.
Eine Gewohnheit repräsentiert sich stets als Muster aber nicht jedes Muster ist eine Gewohnheit.
Landau, 12.Juli 2021
Bernd Taglieber